Aus den Gesprächen mit insgesamt neun involvierten Ärzten und vier Helfern ergibt sich: Das einzige, was in den Wunden gefunden werden konnte, waren neben den besagten Metallkugeln die Projektile von Pistolen, Schrot und Splitter diverser Sprengsätze. Sie alle weisen, übereinstimmend mit Carsten Bothe, darauf hin, dass es einem normalen Arzt nicht möglich sei, in der Notaufnahme festzustellen, ob ein Scharfschütze geschossen hat oder welcher Waffentyp verwendet wurde … schon gar nicht, ob es das gleiche Gewehr war.
( –> Dr. Oksana Syvak im Gespräch https://www.youtube.com/watch?v=42U1gn0HGY8 )
Selbst Promi-Ärztin Bogomolets hat ihre Aufsehen erregenden Zitate öffentlich dementiert – und erklärt, sie habe nur Demonstranten, nicht jedoch Einsatzkräfte behandelt. US-Journalist Michael Hammerschlag, seit fünf Jahren in der Ukraine ansässig, hat das Medientheater um das abgehörte Telefonat zwischen dem estnischen Außenminister und der EU-Außenbeauftragten verfolgt: „Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Slawen, wenn sie Englisch sprechen, Subjekt und Objekt durcheinander bringen, ebenso Präpositionen“, so der 51jährige. Laut Hammerschlag habe dieses Phänomen auch nicht unbedingt mit dem Bildungsgrad zu tun. Beim Straßengespräch, das der Este Paet mit Dr. Bogomolets geführt hat, sei „einiges durcheinander geraten“.
Simple Antwort auf das Rätsel
Ähnliche Wundmerkmale auf beiden Seiten lassen sich auf drei profane Aspekte zurückführen: Die Metallkugel-Sprengsätze, deren Schrapnelle in alle Richtungen flogen. Der Umstand, dass sowohl Polizei als auch Protestierer mit handelsüblichen Jagdwaffen und Pistolen feuerten. Und zuletzt, in der Eskalationsphase, die Eroberung von Kalaschnikows durch die Protestierer, welche sie anschließend gegen die Staatsmacht zum Einsatz brachten.
Der einzige Ort, wo tatsächlich Polizisten und Protestierer behandelt worden sind, ist das Kiewer Militärkrankenhaus – die Armee hielt sich aus der Auseinandersetzung bis zuletzt heraus. Dr. Anatolij Kasmirtschuk ist Chef der großräumigen Einrichtung, die sich nur drei Metro-Stationen vom Maidan entfernt befindet. Kurz angebunden, bringt er im Gespräch die Dinge schnell auf den Punkt: „30 % aller bei uns registrierten Verletzungen stammten von Pistolen, 30 % von Jagdwaffen, 15 % von Verbrennungen und 25 % von Rauchvergiftungen und sonstigen Schädigungen.“ Nur bei zwei Polizisten gäbe es den Verdacht von Angriffen durch Scharfschützen: Einer sei im Bauch getroffen worden – und verstorben. Der andere, mit Einschuss im Rücken, habe gerettet werden können. Bei beiden sei der glatte Durchschuss mit kalibergroßem Ein- und Austrittsloch festzustellen gewesen, so Dr. Kasmirtschuk. Das kann auf vollummantelte (Militär-)Munition für Profis hinweisen – von einer der eroberten Kalaschnikows zum Beispiel. Doch Waffenexperte Bothe weist darauf hin, dass selbst Teilmantelgeschosse aus Jagdgewehren derartige Schäden hinterlassen können – wenn aufgrund weiter Entfernung „die Energie fehlt, um das Teilmantelgeschoss aufpilzen zu lassen und so einen größeren Ausschuss zu produzieren“.
Im Nahkampf ist alles außer Kontrolle
Entscheidend ist am Ende nicht die Frage der Munition, sondern die Person am Abzug. Das Ziel eines Scharfschützen ist das Töten – dafür ziele er, so Bothe, auf Kopf oder Brust. „Und diese Schüsse sitzen bei Profis, sonst drücken sie nicht ab.“ Verletzungen in Bauch und Rücken verweisen zurück auf die Straßenkampf-These. Ebenso die Angaben Dr. Kasmirtschuks zum Schweregrad der Verletzungen: 20 % stark, 50 % mittel, 30 % leicht. Eine wilde Knallerei – und die meisten Schüsse aus weniger als 50 Metern Entfernung, so der Chefmediziner. Und das im Zuge wechselnder Linien. Eine Mindestzahl von 700 Verletzten hat die Ärzte-Organisation „Initiative E+“ registriert. Carsten Bothe verweist auf eine überraschende US-Studie: Im Nahkampf (unter zehn Metern) habe es bei Polizeieinsätzen die größte Fehlerquote gegeben: 80 %.
Die mit Patronenhülsen übersäte Instituskaja-Straße legte Zeugnis ab: Bei zahlreichen Abschüssen trafen einige Kugeln schließlich tödlich. Und am „Blutigen Donnerstag“ hatte die Staatsmacht endgültig jegliche Zurückhaltung aufgegeben: Auch wenn Unbewaffnete getroffen wurden … die Gegenseite konnte sich nach dem Verlust zahlreicher Kalaschnikows nicht mehr sicher sein, wer genau sich hinter den Schilden verbergen möge … zumal an jener schlecht einsehbaren Stelle, die eine Art Nadelöhr bildet. Die Aktivisten waren bis auf wenige Meter an die Polizeibarrikade hinter dem „Hotel Ukraina“ herangerückt, wie Videomaterial und Zeugenaussagen belegen. Eine Eroberung des Regierungsviertels durch wütende Demonstranten musste aus Sicht der Staatsmacht unbedingt verhindert werden, um Umsturzszenarien wie 2003 in Georgien oder 2005 Kirgistan zu verhindern.
Alle Ratten kamen aus ihren Löchern
Von den 104 Todesopfern, die anders als bei ähnlichen Vorgängen im arabischen Raum namentlich umfassend dokumentiert sind, werden nur rund 30 dem Gemetzel in der Institutskaja-Straße zugerechnet. Bereits am 18. Februar starben 21 der Demonstranten sofort an den Folgen eines blutigen Nahkampfs – außerhalb des Maidan. Der spätere Ministerpräsident Jazenjuk hatte als selbst ernannter Oppositionsführer von der Bühne zu einer „myrni nastub“ aufgerufen, einer „friedlichen Offensive“ zum Parlamentsgebäude. Zahlreiche frustrierte Maidanler hatten sich damals nach einer härteren Gangart gesehnt. Der Protestmarsch mit Tausenden Teilnehmern war unorganisiert, und geriet außer Kontrolle. Im Marinsky-Park, gegenüber dem Abgeordnetenhaus, trafen Maidanler, Polizei und die „Tityuschki“ des angeblich bezahlten Anti-Maidan direkt aufeinander. Wer nun den ersten Stein geschmissen hat, lässt sich nicht mehr nachvollziehen. Doch Wut, Depression und Hass entluden sich in einem blutigen Kampf Mann gegen Mann – mit Knüppeln, Messern, Steinen, Flaschen, Brandsätzen und Kleinwaffen. Von den 18 getöteten Sicherheitskräften starben zehn an jenem Dienstag – noch bevor die „mysteriösen Schützen“ ins Spiel kamen. Bohdan Govokhivskyi, Volkswirt und Deutsch-Dozent, berichtet, wie ihm am 18. Februar in einer Seitenstraße, einige Hundert Meter abseits vom Maidan, ein Mann in zivil eine Pistole vors Gesicht gehalten habe. Geistesgegenwärtig habe er schnell hinter einem Auto in Deckung gehen können. Erhitzte Gespräche, gegenseitige Provokationen – und der Finger sei schnell am Abzug gewesen. „In dieser Phase“, sagt Bohdan, „sahen viele dunkle Leute das Signal, loszuschlagen. Auch hier in Kiew haben wir solche, die zuhause über das großrussische Reich fabulieren.“
Geheimdienst bestätigt bewaffnetes Sonderkommando
„Aus diesem Grund haben unsere Sondereinheiten an jenen Tagen gelbe Armbinden getragen“, so Marina Ostapenko, Pressesprecherin des Inlandsgeheimdienstes SBU. „Um sie von allen anderen Parteien zu unterscheiden.“ Nach mehreren Anfragen hat sich die KGB-Nachfolgeorganisation zu einem Gespräch bereitgefunden. Das Hauptquartier: Nur wenige Hundert Meter vom Maidan entfernt, in der Volodymyrska-Straße. Ein Aufseher registriert den Inhalt der Unterhaltung. Anlass: Ein Bericht von Jamie Dettmer im US-Magazin „The Daily Beast“, der weltweit Aufsehen erregt hat. Sein Titel: „Fotos enthüllen von Russen geschulte Mörder in Kiew.“ Zu sehen sind nicht-maskierte Männer mit Schutzwesten und vollautomatischen Waffen … im Hinterhof des SBU.
( –> http://www.thedailybeast.com/articles/2014/03/30/exclusive-photographs-expose-russian-trained-killers-in-kiev.html )
Überraschend bestätigt Ostapenko die Echtheit der Bilder. Und auch den Einsatz am 20. Februar. „Das ist unsere Anti-Terror-Einheit Alpha, die aus 200 Mitgliedern besteht.“ Zwölf davon seien Scharfschützen, berichtet die Offizielle. Die Behauptung, im Rahmen einer Defensivstrategie seien damals jedoch „keine Schüsse abgegeben“ worden, mag unglaubwürdig klingen … widerlegt werden kann sie nicht. Die Fotos zeigen die Einsatzkräfte bei der Vorbereitung – nicht auf frischer Tat. „Wir waren auf Abstand“, so Ostapenko, „in den Straßen Khreschatik, Kostjulna und Bankawa (Präsidentenpalast) – nicht in der Institutskaja.“ Dort seien nur „Berkut“ und Miliz unterwegs gewesen. Immerhin einen spannenden Aspekt gibt die Geheimdienst-Vertreterin dann doch noch zu Protokoll: Die Kontrolle über die „Alpha“-Truppe der Krim, die von Präsident Janukowitsch angefordert worden war, sei im Chaos verloren gegangen. Ob nach oder sogar schon vor der Absetzung der alten Regierung … darüber schweigt sich Ostapenko aus. Doch nicht nur die Spezialtruppe von der Krim, auch der Donezker „Alpha“-Chef Alexander Chodakowski habe schnell das Weite gesucht – und unterstütze heute die Separatisten im Osten. Oleksandr Jakymenko, der nach Russland geflohene SBU-Chef habe stets „russische Interessen repräsentiert“, sagt die SBU-Sprecherin über ihren alten Vorgesetzten. Doch mehr als eine enge geheimdienstliche Zusammenarbeit in der Vergangenheit gibt es nicht zu bieten – als Beweis für „von Russen geschulte Mörder“.