Doch auch die Behauptung, „westliche Söldner“ wären im Einsatz gewesen, konnte die geschasste Seite nie belegen. Nur ein Thema der anti-ukrainischen Medienkampagne in Russland hält einer näheren Prüfung stand: Der mysteriöse Brand des Maidan-Hauptquartiers. Anfang Dezember 2013 begannen Regierungsgegner mit der Beschlagnahme des neungeschossigen Gewerkschaftshauses am Maidan Nesaleschnosti … und bauten es schrittweise zur Kommandozentrale aus. Neben Feldküche, Pressezentrum und Notlazarett gab es im oberen Bereich Unterkünfte für „Selbstverteidigungskräfte“ und den „Rechten Sektor“.
„Endlich war die unerträgliche Zeit des Wartens vorbei“
In der Nacht zum 19. Februar: Das Fanal. Kiews umkämpfte Innenstadt wird von einem Flammenmeer erleuchtet – die Maidan-Zentrale brennt lichterloh. Die Öffentlichkeit ist aufgewühlt, ähnlich wie bei der Ägyptischen Revolution 2011, als ein medial inszeniertes Feuer im Hauptgebäude der Regierungspartei NDP die Stimmung zum Überkochen brachte. „Endlich“, sagt die 22jährige Jana, „war die unerträgliche Zeit des Wartens vorbei.“ Unter den Protestlern habe Depression über den Stillstand geherrscht, so das quasi hauptberufliche „Selbstverteidigung“-Mitglied in Tarnuniform: „Besser als Mensch sterben, denn als Tier zu leben.“ Die blonde Amazone ist noch Monate später vor Ort … und bewacht das neue Pressezentrum. Als Freiwillige, ohne jede Perspektive. Rückblickend stellt sie fest: „Unsere Jungs haben angefangen.“ Die Räumungsaktion gegen den Maidan – eine Reaktion auf den teils gewalttätigen Aufmarsch beim Parlament. Die Staatsmacht rückte in der Nacht über Institutskaja- und Khreschatik-Straße dem Widerstandsnest auf den Pelz. Der SBU bestätigt sogar den Vormarsch einer „Alpha“-Mannschaft auf dem Dach des besetzten Gewerkschafsgebäudes – vom „Hotel Khreschatik“ kommend. Nur eine Aufklärungsmission für die Einheiten am Boden? Nein, sagte Einsatzleiter Vladimir Chovganyuk vor dem „Moskal-Ausschuss“: 238 Spezialkräfte seien in das Gebäude eingedrungen, um es zu erobern – eine Zahl, die unglaubwürdig hoch angesetzt ist. Die Opposition behauptete von Beginn an, die Eindringlinge hätten mit Brandmunition die Revolutionäre ausräuchern wollen. Öffentliche Filmaufnahmen der Operation gibt es nicht.
„Mehrere Brandherde“
Die Sieger von der Straße sperrten das ausgebrannte Gebäude schon wenige Tage später ab – „aus Sicherheitsgründen“. Investigative Recherchen sind auf dem Maidan generell ohne Sicherheitsrisiken machbar. Doch auf Hilfe kann nicht gesetzt werden, wenn es darum geht, die Brandursache der ersten Februarkampfnacht zu hinterfragen. Vier Versuche einer heimlichen Besichtigung fliegen auf – und stoßen auf wenig Gegenliebe von Maidan-Kräften, Sicherheitsdienst und Polizei, welche die Aufräumarbeiten seit Monaten gemeinsam überwachen. Erst der beherzte Einsatz der Aktivistin Natalia Jaroschenko bringt den Durchbruch: Eine Stunde führt uns Vassyl Andrejew auf Sondergenehmigung durch die toten Korridore. Der wortkarge Mann ist Direktor der „Wohltätigkeitsstiftung zur Wiederbelebung des Gewerkschaftshauses“. Genau zwei Jahre, bis August 2016, hat er Zeit, alles wieder herzurichten. Bisher fehlt das Geld. Doch immerhin hätten die Ermittler grünes Licht gegeben, den stinkenden Schutt in den Gängen zu entsorgen. Schon seit Wochen sind die Arbeiter damit beschäftigt. Vassyl, vorschriftsgemäß mit orangenem Schutzhelm ausgestattet, schüttelt mit dem Kopf: „Mir hat keiner was zur Ursache gesagt.“ Doch es sei offensichtlich, dass die Katastrophe „durch mehrere Brandherde“ ausgelöst worden sei. Bingo! Am anderen Ende, in einem abgeschlossenen, zum Hinterhof weisenden Raum des ersten Obergeschosses, hat es ein isoliertes Feuer gegeben. Alle Räume dahinter und darüber sind unbeschädigt. Ein eindeutiger Beweis? Nicht ganz: Über eine seitliche Anhöhe hätten auch Agenten der Sicherheitsdienste Zutritt in den fensterlosen Vorbau haben können.
Flächendeckende Zerstörungen sind erst ab dem dritten OG und aufwärts sichtbar. Anderntags bietet sich vom Nachbarhaus ein voller Blick auf die Ruine. Und weitere Klarheit. Dunkle Brandschlieren an der Außenwand sind nur für den oberen Bereich auszumachen – im fünften bis neunten Obergeschoss der zum Maidan zeigenden Seite. Hier, da stimmen alle Quellen überein, lag auch „die Feuerquelle“.
Kontrollierte Evakuierung
Um vom Dach ins Gebäude zu kommen, befinden sich zwei Eingänge – an beiden Enden, fast 120 Meter voneinander entfernt. Dass „Alpha“ in den ersten Zugang zur „Höhle des Löwen“ eingedrungen sein soll, um unbemerkt ein Großfeuer zu legen, erscheint unwahrscheinlich. Hitze und Rauch steigen nach oben – es wäre Harakiri gewesen. In den oberen Stockwerken befanden sich dazu Ruheräume und Materiallager für die „Verteidigungskräfte“ des Maidan, darunter den Rechten Sektor. Von einem Abwehrkampf auf den Fluren ist nichts bekannt. Im Gegenteil: Über etwa zwei Stunden lief eine einigermaßen geordnete Evakuierungsaktion, bevor die ersten Flammen gegen Mitternacht zu sehen waren.
Anastasia Rozlutska, persönliche Referentin des Parlamentsabgeordneten Oleksander Donij, berichtet im Gespräch, was sie erlebt habe, als sie zwischen 21.00 und 22.00 Uhr vor Ort eingetroffen sei: „Im ersten Obergeschoss war alles voller Wasser. Die Leute sagten, sie hätten einen Kurzschluss löschen wollen. Aber ich habe davon nichts gesehen.“ Dafür habe sie hautnah erlebt, wie der Befehl ergangen sei, alle Verletzten aus dem Spital herauszutragen. Begründung: Die anrückende Polizei – „Feindseite.“ Rozlutska berichtet, wie sie Autos organisierte, um die Patienten vom Maidan wegzufahren. Und dann: „Viel dichter Rauch im oberen Bereich.“ Später Flammen. Die Feuerwehr sei zwei bis drei Stunden später gekommen. Die „Samooborona“ des Maidan habe die beiden Wagen passieren lassen … und die Staatsmacht alle Operationen um das brennende Gebäude herum eingestellt. Die rechtzeitige Räumung erklärt, dass entgegen aller Schauermärchen nur zwei Menschen der Feuerfalle auf den weiträumigen Fluren zum Opfer fielen … und nicht 38, wie später bei einem ähnlichen Fall am 2. Mai in Odessa. US-Journalist Hammerschlag berichtet: „Ich war bis zuletzt im Presseraum des ersten Obergeschosses. Schon zwei Stunden vorher hat man mir gesagt, zu gehen, aber ich blieb bis es nicht mehr ging. Das Feuer kam sehr langsam von oben.“ Wie alle anderen bekennt auch er, keine Explosion im Gebäude gehört zu haben. Der Brand entstand lautlos.
„Vier Männer mit Benzinkanistern“
„Kein Wunder“, meint „Samooborona“-Frontfrau Jana lässig. „Ich habe gesehen wie vier Männer am Abend mit Benzinkanistern durchs Eingangsportal nach oben gingen – und ein bis zwei Stunden später hat der Brand begonnen.“ Die Kämpferin glaubt, bei der furiosen Zerstörung des eigenen Hauptquartiers habe es sich um die einzige Möglichkeit gehandelt, die hauptsächlich defensive, mittlerweile lethargische Maidan-Bewegung zur Entscheidungsschlacht zu zwingen. „Wir als Soldaten können nicht rumhocken.“ Für die Profi-Politberaterin Anastasia sieht die Sache anders aus: Zwar bestreitet sie nicht die Brandstiftung – allerdings sei sie „vermutlich aus Verteidigung gegen das anrückende Alpha-Kommando auf dem Dach“ erfolgt. Politaktivistin Maria Tomak, das offizielle Gesicht von „SOS Maidan“, mutmaßt, aus Angst vor der Übernahme seien Akten verbrannt worden – und das Feuer schließlich außer Kontrolle geraten. Einzig US-Reporter Michael Hammerschlag bleibt bei der offiziellen Maidan-Version, und nennt ein intern gelegtes Feuer eine „weithergeholte Verschwörung“, da die Oppositionellen damit ihren Wohnsitz verloren hätten.
Auch Direktor Andrejew warnt: „Es gibt keinen Abschlussbericht.“ Doch der Vorwurf, die Polizei habe das Kiewer Gewerkschaftshaus in Brand gesetzt, kann angesichts der Indizienlage als die eigentliche Verschwörungstheorie angesehen werden. SBU-Einsatzleiter Chovganyuk hat offiziell ausgesagt, auf dem Dach zahlreiche Molotow-Brandsätze gesichert zu haben. Beim Vormarsch der „Alpha“-Mannschaft hätten diverse Feuer am Ende den Weg versperrt. Doch nicht einmal die Täter für die brennenden Barrikaden und Zelte auf der Straße können benannt werden. Allerdings … auch wenn Polizisten anderntags als Molotow-Werfer gefilmt worden waren … hielt die höllenheiße Absperrung auf der Khreschatik den Räumeinsatz der Staatsmacht auf.
Heldenglaube in den Köpfen
Es ist bemerkenswert, dass alle deutschen Medienhäuser von Relevanz einer Erörterung der Katastrophe aus dem Weg gegangen sind. Ebenso wie dem Umstand, dass selbst die exzessive Polizeiprügel vom 30. November 2013, welche den kleinen Studentenprotest zum Volksaufruhr anschwellen ließen, auf Provokationen zurückzuführen waren. Angriffe auf „unsere Kinder“ sicherten dem Maidan Sympathien aus der sonst trägen Gesellschaft. Ergebnisoffene Ermittlungen seitens der Staatsanwaltschaft würden für keine der beiden Parteien dieser explizit inner-ukrainischen Auseinandersetzung positiv enden. Und der ukrainische Staat befindet sich seit dem pro-russischen Aufruhr im Osten in akuter Lebensgefahr: „Alpha“ und „Rechter Sektor“ stehen heute als Verbündete im „Anti-Terror-Kampf“ an der Front. Der erste Versuch zur Bildung einer Nation scheiterte in den Jahren 1917 bis 1920 an den Reibereien zwischen der nationalistischen Ukrainischen Volksrepublik in Kiew und der bolschewistisch ausgerichteten Ukrainischen Sowjetrepublik in Charkow. Das inner-ukrainische Zerwürfnis brachte das Land schließlich in die Fänge Moskaus. Eine traumatische Erfahrung, die bis heute nachwirkt. So steht die Kampfbereitschaft der gewaltbereiten Maidan-Minderheit in der anti-sowjetischen Tradition der Westukrainer, wo bis in die 60er Jahre hinein der Freischärler-Krieg gegen die Rote Armee seine Fortsetzung gefunden hat. Die Psychologie beantwortet vieles: Während junge Moslemkrieger unserer Tage sich in der Vorstellung wähnen, auf dem Pfade des Propheten Mohammed für das ewige Paradies zu kämpfen, haben junge ukrainische Patrioten eine andere geistige Triebfeder: Den Kosaken-Mythos. Befreit von der sowjetischen Umerziehungskultur ihrer Eltern sind viele Ukrainer unter 30 auf der Suche nach Identität. Fehlende familiäre und soziale Perspektiven trugen im Februar 2014 ihren Teil dazu bei, in der Tradition der frühen Reiterkämpfer todesmutig ins Sperrfeuer des Gegners zu rennen.