„Es war auch eine Geheimaktion“, beharrt Inna Bogoslowska, seit fast zwei Jahrzehnten in der ukrainischen Politik aktiv. Die Parlamentsabgeordnete war die erste aus den Reihen der „Partei der Regionen“, welche Janukowitsch zum Rücktritt aufgefordert hatte. Bereits am 01. Dezember 2013 trat sie aus der Regierungsfraktion aus. Heute betont sie, die Gewalttätigkeit des damaligen Präsidenten habe sie zu diesem Schritt bewogen. Beim Hintergrundgespräch empfängt die studierte Juristin ihren Gast aus Deutschland mit Wangenkuss. Der Euro-Maidan markiere für sie „das Ende der Sowjetperiode“ in der Ukraine, stellt Bogoslowska klar. In der Berichterstattung zum Zweifel an der Urheberschaft der Maidan-Toten zitierten sie alle deutschen Medien mit der Stellungnahme, sie habe in einem Video Scharfschützen in „Berkut“-Uniformen gesehen, die bewusst in die Reihen beider Parteien geschossen hätten – „aber nicht im Auftrag der ukrainischen Sicherheitskräfte“.
Medienaufruhr ohne Hintergrund
Beim Gespräch in ihrem Büro konkretisiert Bogoslowska ihre öffentlichen Aussagen vom 21. Februar, welche den Beginn der ganzen Verschwörungsdebatte markierten: „Das Video wurde mir auf einem Mobiltelefon vor dem Parlament gezeigt“, so die 53jährige. Warum sie, die gewiefte Anwältin, den Film nicht sofort sicherte, bleibt schleierhaft. Das angebliche Beweismaterial ist verschollen. Damit nicht genug … Auf Nachfrage markiert Bogoslowska die Position der vermeintlichen zwei Schützen: Sie hätten auf den Dachkanten des „COOP Spilka“ gesessen, dem siebengeschossigen Gebäude an der Kreuzung von Instituskaja-Straße und Khreschatik-Allee, so die Politikerin. Das ist direkt am Maidan. Dank guter Beziehungen zum örtlichen privaten Sicherheitsdienst gelingt es, das Haus näher zu untersuchen. Ergebnis: Es ist gekrönt mit einem Spitzdach, direkte Zugänge gibt es nicht. Das Anwesen ist nicht mit anderen Bauwerken verbunden. Denkbar ungünstiges Gelände für Geheimsöldner. Konfrontiert mit den Fakten verweigert Bogoslowska jede weitere Aussage.
Das Beweismaterial ist ein Witz
Der zweite Abgeordnete, welcher am 24. Februar mit vermeintlichen Enthüllungen zum Kiewer Blutbad internationale Schlagzeilen erregte, war Ghennadi Moskal. Früher Kriminalpolizeichef und stellvertretender Innenminister, politisch groß geworden mit der „Orangenen Revolution“ von 2004, sucht er 2014 als Chef einer Parlamentarier-Kommission um Aufklärung. Konkretes könne er nicht sagen, lässt Moskal verlauten, er wolle die Staatsanwaltschaft nicht behindern. Doch ob diese wirklich an Aufschluss interessiert ist, daran gibt es mittlerweile erhebliche Zweifel. Als einzige Institution geht die „Prokuratura“ jeder Stellungnahme aus dem Weg: Ermittler Pavlo Nemchynov und Pressesprecher Vassyl Soriah lassen für diese Recherche eine Zusage nach der anderen platzen. Was Moskal ihnen als Enthüllungsmaterial zugestellt hat, beweist dazu überhaupt nichts: Die neun Seiten Papier, die den angeblichen „Bumerang und Welle“-Plan der Sicherheitsdienste zur Räumung des Maidan beschreiben, sind ohne Kopfbogen, Stempel oder Unterschrift. Theoretisch hätte diesen „Fund“ mit den Namen von 27 Verdächtigen jeder schlichte Fälscher am heimischen Rechner ausgedruckt haben können.
Das Projektil flog anders als behauptet
Problematisch ist, dass die einmal ins Leben gerufenen Schauergeschichten ein Eigenleben entwickelt haben. Unbescholtene Bürger berichten von russischsprachigen Sicherheitskräften in den Reihen der Staatsmacht … und vergessen dabei, dass zu Zeiten des gemeinsamen Sowjetstaates der Zuzug aus Russland problemlos möglich, teils gar gefördert wurde. Und auch im neuen Pressezentrum sind die ukrainischen Medienaktivisten nicht vor Märchen gefeit: Das fünf Zentimeter breite Einschlagloch im Balkonfenster (siehe oben), berichten einige Freiwillige, stamme von einem der „feindlichen Scharfschützen“ – abgefeuert vom Dach des gegenüberliegenden Wohnhauses mit Spitzturm. Es ist ein Glücksfall, dass genügend Spuren vorhanden sind, die es ermöglichen, den tatsächlichen Hergang zu rekonstruieren.
( –> https://www.youtube.com/watch?v=3ZtlxZTdKwE )
Das Projektil durchflog die Halle im zweiten Geschoss und schlug neben der Eingangstür in die Wand ein. Der Abstand und die Höhen von Durch- und Einschlag sind zügig ausgemessen. Mithilfe des Strahlensatzes lässt sich die Herkunft bestimmen: Je nachdem, ob im Stehen aus zwei Metern Höhe oder im Liegen gefeuert worden ist, liegt die Quelle zwischen 104 und 137 Meter vom Pressezentrum entfernt. Das ist laut Karte im Dreieck zwischen Gründerdenkmal, Tschaikowsky-Musikakademie und Khreschatik-Straße, und damit vom Boden aus … einem stets Opposition-beherrschten Gebiet mit dichter Zelt-Besiedlung. Während der Nachforschungen bestätigt Jura, Kosake aus Dnjepropetrowsk und Krieger der vierten Maidan-Hundertschaft („Szotnija“), diese Feststellung. „Unsere Leute haben mit einer Winchester gefeuert“, sagt er. Was er meint, ist ein Jagdgewehr – und die sind in der West-Ukraine traditionell weit verbreitet. Zu jenem Zeitpunkt, am 18. und 19. Februar, sei das Pressezentrum noch im besetzten Gewerkschaftshaus untergebracht gewesen. „Berkut“-Einheiten seien von der Seite vorgestoßen und hätten vor dem betroffenen Gebäude gestanden. Ob der Angreifer im Chaos schlecht gezielt hat … oder bewusst nur auf Abschreckung setzte, bleibt unklar. Ein Profimörder war er mit Sicherheit nicht.
Sinnestäuschung am Mc`Donalds
Gespräche mit zahlreichen Augenzeugen legen den Schluss nahe, dass sämtliche Gebäude um den Maidan herum mit „mordlüsternen Söldnern“ besetzt gewesen sein müssten.
( –> ukrain. Doku http://20film.wix.com/20film )
In der Psychologie wird von Stress-Syndromen und Gedächtnisverfälschungen gesprochen. Anders ist nicht zu erklären, wieso es beispielsweise im hinteren Teil des Protestlagers, sowie der langgezogenen Khreschatik-Allee keine Niedergeschossenen gab, dafür jedoch abseits in den Nebenstraßen Institutskaja und Gruschewskoho, vor allem zwischen Parlament und Präsidentenpalast. Und dass Teilnehmer gar bei ihrer Ehre schwören, am anderen Ende des Maidan, beim Mc´Donalds und dem „Hotel Kosatsky“, seien Personen von den Dächern aus erschossen worden? Vermutlich eine Folge des überwältigenden Eindrucks zahlreicher Toter und Verletzter, die in jenen sicheren Bereich getragen worden sind. Die Hotelleitung des „Kosatsky“ reagiert ungehalten und bestreitet, dass ein Scharfschütze auf dem Dach gesessen hätte – und das Bauwerk ist tatsächlich isoliert, von Seitengebäuden aus nicht zu erreichen. Auch Anwohnern der verdächtigen Häuser ist nichts aufgefallen. Vor Ort präsente Ärzte und Helfer, die nun in Ruhe zu sprechen waren, bestätigen übereinstimmend: „Wir haben nur Opfer von anderen Stellen entgegen genommen.“
MONITOR täuschte, dass sich die Balken bogen
Einem erfahrenen Reporter wie Stephan Stuchlik hätten diese Umstände bekannt sein müssen. Bei einem Gedankenaustausch in Simferopol auf der Krim stellte er seinen russischen Sprachschatz und umfassende Osteuropa-Kenntnisse unter Beweis. Der ARD-Korrespondent ließ es sich dennoch nicht nehmen, einen Monat später für die linkslastige Politsendung „MONITOR“ einen Bericht zusammenzustellen, der zwar viel Aufsehen erregte … aber inhaltlich gravierende Schwächen aufwies. Kernthema: Verschwörung auf dem Maidan, Scharfschützen im „Hotel Ukraina“.
( –> Original-Sendung http://www1.wdr.de/daserste/monitor/sendungen/maidan118.html )
In der am 10. April auf ARD ausgestrahlten Sendung mit dem Titel „Todesschüsse in Kiew – wer ist für das Blutbad vom Maidan verantwortlich“ ist die Fernsehmannschaft nachts hinter dem „Hotel Ukraina“ auf Erkundungstour. Der ukrainische „Waffenexperte Sergej“ präsentiert die Streifschüsse an den Bäumen neben der Institutskaja-Straße. O-Ton: „Er zeigt uns mit einem Laser, dass es nicht nur Schusskanäle aus Richtung der Regierungsgebäude gibt. Einige Kanäle in den Bäumen deuten in die entgegengesetzte Richtung, wenn man durch Austrittsloch und Einschussloch leuchtet, oben ins Hotel Ukraina, damals die Zentrale der Opposition.“ Was Herr Sergej tatsächlich äußert, ist nicht zu hören. In jedem Fall ist die Behauptung jedoch unzutreffend: Kleines Eintrittsloch, ausgefranster Austritt – letztere zeigen unisono in Richtung Hotel. Und mithilfe eigenen Ausleuchtens sind selbst die Einschläge in der Wand auszumachen.
Insgesamt 28 Treffer sind in der näheren Umgebung zu sehen – 27 von ihnen weisen in Richtung Polizei, auch der MONITOR-Schusskanal. In den getroffenen Metallpfählen entlang der Straße sind die Durchmesser einiger frontal aufgeschlagenen Projektile gut abzulesen: Zwischen 9 und 15 mm, in der Regel 12,5 mm.
Nur ein einziges durschlug den Metallrahmen auf beiden Seiten. Durch das Loch in etwa zwei Metern Höhe ist die Herkunft zu erblicken: Der Abschuss erfolgte vom Balkon der Nationalbank, 150 Meter weiter. Einzig ein drei mal sieben Zentimeter weites Loch in einer Kastanie auf der anderen Straßenseite weist auf die Opponenten – höchstwahrscheinlich ein Treffer mit einem im Ostblock populären Kaliber-12-Bleigeschoss eines Jagdgewehrs.
Mithilfe eines Lichtzeigers (Laserdiode) ist der Ursprung erkennbar: Aus der Richtung des Hotels, allerdings vom Boden, wo die mit Schutzschilden bestückten Aktivisten hockten. Hier setzt MONITOR mit seiner „Beweisführung“ fort, und zeigt Ausschnitte aus einem „Video, das augenscheinlich beweist, dass der Oppositionelle mit dem Metallschuld von hinten getroffen wird“ – also aus dem „Hotel Ukraina“. Militärexperte Carsten Bothe: „Daran wie ein Getroffener fällt, kann man nicht die Herkunft des Schusses ablesen.“ Selbst Blut spritze für normal in beide Richtungen. Im von MONITOR gezeigten Filmbeitrag sei jedoch zu erkennen, dass das Projektil „eindeutig von vorne“ gekommen sei – und das anhand des Trichters im Metallschild. Auf dem Maidan findet sich keine einzige Schutzplatte mit einem „Innen-Treffer“.
Auch die im Bericht gezeigten Fotos von Maidan-Aktivisten „mit professionellen Waffen“ lässt Bothe nicht gelten: Es handele sich um Luftgewehre, „das ist Kinderspielzeug, hier frei ab 18 Jahren, damit kann man keinen Menschen erschießen, die haben selbst in der Export-Version nur rund 35 Joule Energie, für den menschlichen Körper braucht man 80 bis 200 Joule.“
Falsche Übersetzung führte in die Irre
Unwissenheit und schlechte Recherche sind das eine. Bewusste Desinformation das andere. Besuch im „Krankenhaus Nr. 6“ von Kiew. Offiziell arrangiert werden konnte das Treffen mit Dr. Oleksander Lisowoi nicht. Die Behörden lassen Journalisten mit Nachfragen nach den Februarereignissen mittlerweile „im Regen“ stehen. Es gelingt, den Arzt nach Feierabend abzupassen. Er erinnert sich an die Filmaufnahmen mit der deutschen Fernsehmannschaft in der Abteilung. Doch dass er „einer der wenigen Ärzte, der die Verwundeten beider Seiten versorgt hat“ wäre, dementiert er sofort. Am 20. Februar, dem blutigen Donnerstag, habe er ausschließlich Polizisten behandelt, sagt Lisowoi. Eine Krankenschwester und ein Wachmann bestätigen das: „Die Sicherheitskräfte haben hier alles abgesperrt, das wäre für einen verletzten Maidanler nicht sicher gewesen.“ Sein Wissen über die Wunden von Demonstranten, so Lisowoi, habe er von früheren Studienkollegen, die ihm entsprechende Fotos gezeigt hätten. „Und da gab es Übereinstimmungen, was die Wunden angeht.“ Allerdings ist bereits in der von MONITOR ausgestrahlten Version zu hören, dass der Mediziner nicht von Projektilen, „pula“, spricht, sondern von „metallitschiskije schariki“, also metallische Kugeln. Worum es sich dabei handelt, lässt sich bei Nachforschungen auf dem Maidan schnell herausfinden: Wälzkörper eines Kugellagers, entnommen aus alten Autorädern.
( –> Sergej Sacharow im Gespräch https://www.youtube.com/watch?v=M-4O3YV3Jxs )
Maidan-Techniker Sergej Sacharow, gelernter Elektriker, berichtet: „Zuerst haben wir einfach Schwarzpulver verpackt, gezündet und auf die Polizei geworfen. Als die auf die Idee gekommen sind, an ihre Lärm- und Blendgranaten Schrauben mit Klebeband anzuheften, und unsere Leute schwere Verletzungen davongetragen haben, sind wir dazu übergegangen, die Metallkugeln mit Klebeband an unsere Bomben zu befestigen“, so der Mann im gestandenen Alter. „Je mehr Klebeband, desto mehr knallt es“, sagt Sergej. 30 bis 40 Meter weit habe ein kräftiger Mann diese Pakete schmeißen können … und wem das nicht gelang, dem seien die eigenen Wurfgeschosse um die Ohren geflogen.
Dies ist auch der Grund dafür, dass diese Kugeln in den Körpern beider Seiten gefunden wurden.
Waffenkenner Carsten Bothe weist darauf hin, dass Ärzte im Falle eines Todesschusses durch Scharfschützen keine Kugeln im Opfer gefunden hätten: „Die durchschlagen die Körper bis weit über 1.000 Meter Entfernung.“