Teil 1: War es das Werk finsterer Mächte?

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Ende eines Traums. Letztes Geleit für Jaroslaw – (c) Billy Six

Salut für den „Gefallenen“. Schüsse gen Himmel. „Helden sterben nicht“, skandieren etwa 100 Trauernde auf dem „Maidan“, jener mittlerweile weltberühmten Zeltstadt im Zentrum der ukrainischen Hauptstadt Kiew. Unweit davon speist die gleiche Zahl Menschen im Mc´Donalds – auf Distanz. Jaroslaw hatte den revolutionären Aufstand von Beginn an unterstützt, ein Überzeugungstäter. Sein Zimmer im besetzten Teil des „Dnipro Hotels“ sollte er nie mehr verlassen – man fand ihn aufgeknüpft.

( –> Beerdigung http://www.youtube.com/watch?v=1-o2ksmNmpE )

Suizid aus Frust, Mord wegen interner Machtkämpfe … die Gerüchteküche brodelt. Klar ist nur eines: Die warmherzige Solidarität, die das Zusammenleben auf dem Protestplatz vom November 2013 bis Februar 2014 ausmachte, gehört der Vergangenheit an. Die kalte und schroffe Eigennützigkeit der post-sowjetischen Gesellschaft erkämpft sich ihren Platz zurück. Und eröffnet Chancen: Die Aufklärung des Todes der „himmlischen Hundert“ in den Straßenkämpfen vom 18. bis zum 21. Februar, die Präsident Viktor Janukowitsch endgültig das moralische Rückgrat brachen, erscheint nun leichter. Objektive Faktensuche statt Mauern blinden Patriotismus. Seit Februar recherchiere ich vor Ort die Hintergründe zum „Urknall“ des ukrainischen Bürgerkriegs – davon zehn Wochen in Kiew.

Ein dunkles Geheimnis?

Der vorliegende Bericht dokumentiert die Notwendigkeit des Einsatzes von Aufwand und Zeit, um fundierte Tatsachen ans Licht zu bringen. Angesichts der Schnelllebigkeit unserer Zeit sind die Medien oft auf die Wiedergabe ungeprüfter Zeugenaussagen angewiesen. Fehlmeldungen sind zwangsläufig. Scheinbar der Wahrheit verpflichtet, hatte sich eine „Enthüllungs-Phalanx“ gebildet, die Unglaubliches über das Kiewer Blutbad zu berichten wusste: „Die blutige Zuspitzung in Kiew, die schließlich zum Sturz von Janukowitsch führte, geht nicht auf die Brutalität des Regimes zurück, sondern auf Agents provocateurs der Opposition“, wusste Jürgen Elsässer, COMPACT-Chefredakteur, am 05. März 2014 zu berichten. „Schießbefehl womöglich aus den Reihen der Opposition und nicht von der Regierung“, vermeldete STIMME RUSSLANDS am 11. März. Das ARD-Magazin „MONITOR“ gab der Verschwörungsthese am 10. April in einem Vor-Ort-Report über „neben den Regierungsscharfschützen also noch andere unbekannte Schützen“ eine höhere Weihe.

„Scharfschützen, die Leute auf beiden Seiten erschossen“

Die Thesen zum „dunklen Geheimnis“ des Maidan wurden durch ein heimlich mitgeschnittenes Telefongespräch vom 26. Februar 2014 befeuert: In dem unter Pseudonym auf „Youtube“, vermutlich vom russischen Geheimdienst, veröffentlichten Tonband berichtet Estlands Außenminister Urmas Paet der EU-Außenbeauftragten Catherine Ashton von seiner Visite in Kiew.

( –> Telefonat https://www.youtube.com/watch?v=ZEgJ0oo3OA8 )

Paet teilt mit, dass die neue ukrainische Führung kein Vertrauen im Volk genieße. Er habe sogar Informationen von der landesweit bekannten Ärztin Olga Bogomolets, dass „alle Indizien darauf hinweisen, dass Menschen, die von Scharfschützen auf beiden Seiten, Polizisten und Menschen von der Straße, dass es die gleichen Scharfschützen waren, die Leute auf beiden Seiten erschossen.“ Gegenüber der verdutzten Ashton bekräftigt der Minister: „Die gleiche Handschrift, der gleiche Typ Munition.“ Die neue Koalition wolle die Täterschaft nicht ermitteln. „Da gibt es eine stärker und stärkere Auffassung, dass hinter den Scharfschützen nicht Janukowitsch stand, sondern jemand von der neuen Koalition.“ Die Echtheit der Konversation wurde wenig später aus Tallinn bestätigt – als bedauerliches Missverständnis.

Reale Verschwörungen

Im Geheimdienstjargon kursiert ein angelsächsischer Begriff: „False Flag.“ Operationen unter „falscher Flagge“ bezeichnen einen verdeckten Einsatz von Militär oder Nachrichtendienst mit dem Ziel, Identität und Absichten des tatsächlichen Urhebers zu verschleiern – oder einem unbeteiligten Dritten in die Schuhe zu schieben. Dabei handelt es sich grundsätzlich nicht um Fernseh-Fiktion. Eine geringe Anzahl derartiger Aktionen gilt als historisch erforscht und erwiesen: Legendär geworden ist der „Überfall auf den Sender Gleiwitz“, mit dem die deutsche SS am 31.08.1939 eine vermeintlich polnische Aggression gegen das Reich zu veranschaulichen suchte. Keine drei Monate später entfesselte die Rote Armee mit einem inszenierten Angriff auf den Grenzort Mainila ihren Winterkrieg gegen Finnland. In den USA lehnte Präsident Kennedy 1962 die „Operation Northwoods“ ab, einen fertigen Plan des Generalstabs, mit fingierten Anschlägen gegen den zivilen Luft- und Seeverkehr eine Invasion Kubas zu rechtfertigen. Italien wurde während der 1960er bis 80er Jahre von mehreren Terroranschlägen erschüttert, welche die Kommunisten diskreditieren sollten, tatsächlich jedoch von einem Bündnis westlicher Geheimdienstler und Rechtsextremisten begangen worden sind.

Das Opfer der Märtyrer führte zum Kurswechsel

( –> Tagesschau https://www.youtube.com/watch?v=gjfrR1mSkpg )

Und in der Ukraine? Das zweitgrößte Land Europas, gesegnet mit fruchtbaren Böden und großen Kohlevorkommen, stand vor der Schicksalswahl, sich einer Eurasischen (Zoll-)Union unter russischer Führung – oder den westlichen Bündnissen EU und NATO anzubinden. Präsident Janukowitsch, früher Gouverneur im pro-russischen Donezk, sah sein Land als „Brücke zwischen Russland und der EU“, lehnte einen Beitritt zum Nordatlantik-Pakt ab und verlängerte den Pachtvertrag für die russische Schwarzmeerflotte in Sewastopol. Unter finanziellem Druck hatte er im November 2013 überraschend von der zuvor angekündigten Assoziierung mit der Europäischen Union Abstand genommen – und damit die ersten Studentenproteste ausgelöst. Dass der Staatschef bereits drei Monate später nach Russland fliehen würde … damit, so die Maidan-Aktivisten heute, habe niemand gerechnet. Nur unter dem Eindruck der zahlreichen Toten auf den Straßen kippte am 22. Februar 2014 die Stimmung im Land – und das Parlament erklärte Janukowitsch für abgesetzt. Die neue Führung, aktuell unter dem Multimilliardär Petro Poroschenko, drehte den politischen Kurs gen Westen – und nabelt sich zusehends vom einstigen Bruderland Russland ab.

„Eine dritte Kraft“

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Am Tatort: Michel Nako – (c) Billy Six

Michel Nako, 54, tätig in der Kulturabteilung der Kiewer Stadtverwaltung und Übersetzer für offiziellen französischen Besuch, kommt regelmäßig mit seinem Fahrrad auf den Protestplatz, um das Geschehen zu fotografieren. Voller Grauen erinnert er sich zurück an die Leichen auf dem Straßenpflaster, und ist sich sicher: „Das waren russischen Spezialisten.“ Der russische Außenminister Lawrow habe, so Nako, „ganz nach sowjetischer Mentalität“ von der damaligen ukrainischen Führung ein härteres Vorgehen gegen „die Faschisten auf dem Maidan“ verlangt – und Menschenleben hätten in Russland noch nie einen hohen Stellenwert besessen. Diese Auffassung steht bei den ukrainischen Patrioten hoch im Kurs. Die neue Führung und die Ermittlungsbehörde „Prokuratura“ befeuern diese zweite Verschwörungsversion. Innenminister Awakow: „Der wichtigste Faktor in diesem Aufstand, der Blut in Kiew vergoss und der das Land auf den Kopf stellte und schockierte, war eine dritte Kraft. Und diese Kraft war keine ukrainische.“ Gesundheitsminister Musij wurde konkreter: (Nicht veröffentlichte) forensische Beweise würden darauf hindeuten, dass Scharfschützen tatsächlich in beide Seiten gefeuert hätten, um die Lage anzuheizen. Darunter auch „russische Spezialkräfte, die der Ideologie des alten Regimes dienten.“ Das Ziel: Eine Legitimation für die Abspaltung der Krim-Halbinsel.

Der Westen – gefangen im Propagandakrieg zweier werdender Nationen

Zwei Verschwörungsthesen konkurrieren in den ukrainischen Wirren bis heute um Glaubwürdigkeit. Nicht umsonst wurde in der EU-vermittelten Vereinbarung zwischen Regierung und Opposition am 21. Februar eine „gemeinsame Untersuchung der jüngsten Gewaltakte“ beschlossen, überwacht vom Europarat. Das Abkommen scheiterte. Und die Aufklärung der neuen Führung  beschränkte sich fortan auf eine Pressekonferenz und die Anklage gegen zwölf „Berkut“-Polizisten. Nachfragen sind unerwünscht.

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