April/Mai 2011: Apokalyptische Szenen. Wo früher eine belebte Innenstadt war, herrscht nun das Grauen. Es riecht nach Tod und Zerstörung im Zentrum von Misratah. Die sechs Kilometer lange Tripolis-Strasse war einst der Geschäfts-Boulevard der libyschen Mittelmeerstadt, die seit über zwei Monaten von den Truppen des Machthabers Muammar al Gaddafi belagert wird. Jetzt sind die Gebäude ausgebrannt, auf dem Asphalt liegen rauchende Trümmer. Einschusslöcher überall. Die Geschichte des achtwöchigen Überlebenskampfes der 250.000 Einwohner gleicht einem Wunder … Über Nacht hatte sich am 20. Februar 2011 die einst allmächtige Staatsmacht in Luft aufgelöst. Eine panische Reaktion auf die explosive Wut der Menschen? Sie hätten friedlich demonstriert, sagen die Menschen – für Reformen, nicht für ein Ende des Regimes. In der Industrie-Vorzeige-Stadt gab es Viele, die Gaddafi nicht grundsätzlich ablehnten. Mit der Ermordung ihrer Brüder habe sich alles geändert. Als das Regime zurückschlug, hätten die Menschen nur Steine, Stöcker und Messer zur Verteidigung. David gegen Goliath. Aber Glaube und Ortskenntnis standen offenbar auf ihrer Seite. Und das Glück, dass die Gaddafi-Streitmacht das Aufbegehren zu wenig ernst nahm. Statt eines Handstreichs fanden sie Tausende kampfbereiter Bürger vor, die ihnen die Waffen geradezu aus der Hand rissen. Je mehr sich die Lage zuspitzte, desto brutaler ging das Regime vor – zuletzt mit Panzern und Scharfschützen. Sie scheiterten am verzweifelten Todesmut der Männer Misratahs. Über 1.000 Tote und 5.000 Verletzte seien bisher zu beklagen, heißt es aus den Krankenhäusern. Jedem Märtyrer folgten drei neue kampfbereite Männer, die in die Fussstapfen ihrer getöteten Angehörigen steigen. Und jedes weitere Opfer unter den Regierungstruppen in den Vororten wird mit neuen Raketenangriffen auf Wohngebiete beantwortet. In Libyen wird weiter gestorben.