von Billy Six am 3. und 4. Oktober 2014
Tschernobyl! Auch 28 Jahre nach der Explosion von Reaktor 4 des sowjetischen Atomkraftwerks „Lenin“ wird die deutsche Öffentlichkeit mit Schreckensmeldungen wachgerüttelt: Der Bau einer neuen Jahrhundert-Schutzhülle droht nach zweieinhalb Jahren ins Stocken zu geraten. Dem von der G7 auferlegten Hilfsfonds fehlen 615 Millionen Euro. Zu sehen ist der erste Teil der auf Schienen montierten beweglichen Metall-Halle von 109 Metern Höhe bereits jetzt. Ihre Fläche: Fast drei Mal so groß wie der Petersdom.
2015 sollte die Versiegelung abgeschlossen sein – doch jetzt ist der Zeitplan in Gefahr. Die Bundesregierung drängt auf eine Lösung und stellt neben den jährlichen 7,65 Millionen Euro eine zusätzliche finanzielle Beteiligung Deutschlands in Aussicht – von der Oder-Neiße-Grenze ist der Unglücksreaktor in der heutigen Ukraine nur etwa 1.060 Kilometer entfernt. Die „Deutsche Welle“ nennt den alten Beton-Sarkophag aus dem Jahr 1986 in einem aktuellen Bericht „eine tickende Zeitbombe“.
Das Leben geht weiter
Kaum verständlich dürfte es vielen der Sorge-erfüllten Deutschen daher sein, dass die 30-km-Sperrzone seit 2011 ganz offiziell für Touristen zugänglich ist. Unter Aufsicht, gegen Geld. Für 140 Euro pro Tag. Die Strahlenbelastung, so die Veranstalter, sei mit der Röntgenprozedur im Krankenhaus oder einem Transatlantik-Flug vergleichbar.
Ein zweitägiger Besuch vor Ort wird offenbaren: Vom „Atomtod“ kann keine Rede mehr sein. Vielmehr hat sich Alan Weismans „Die Welt ohne uns“ bewahrheitet – die Natur hat sich ihren Weg gebahnt. Europas Wildnis aus einer fernen Vergangenheit ist nach der Menschen-Flucht wieder heimisch geworden: Neben Unmengen an Rotwild und Wildschweinen auch Wölfe, Elche, Wildpferde, Luchse und Biber – sie alle streifen heute durch die Wälder, Wiesen und Moore des umzäunten Areals.
Das 1193 erstmals erwähnte Tschernobyl liegt 18 Kilometer vom Todesreaktor entfernt. 3.000 bis 4.000 Arbeiter leben in den geräumten Wohnblocks – 15 Tage am Stück dürfen sie für Wartungs- und Sicherungsdienste hier sein. Sie sind die letzten, die nach der Abschaltung des AKW im Jahr 2000 noch geblieben sind. Die Straßen sind gepflegt, in der großen orthodoxen Kirche gibt es jeden Sonntag eine Messe. Im örtlichen Hotel werden Besucher einquartiert. Doch zwischen 100 und 200 Menschen wohnen permanent in der Sperrzone – alte Leute, die ihre Heimat nicht verlassen wollen, und von den Autoritäten geduldet werden …
„Hier sind wir geboren, hier wollen wir auch sterben“
Fünf Kilometer jenseits von Tschernobyl: Das Dörfchen Parischev.
„Strahlung?“, fragt der 77jährige Iwan Iwanitsch ungläubig. „Wir sind durch den Krieg gegangen – da haben wir doch keine Angst vor etwas, was wir nicht sehen, fühlen oder schmecken können.“ Seine Frau Maria, 76, mit traditionellem Kopftuch, steht auf Abstand, während ihr Mann am Gartentisch selbstgemachten Wodka ausschenkt. 1988, zwei Jahre nach der Evakuierung, kamen beide zurück nach Parischev. „Hier sind wir geboren, hier wollen wir auch sterben“, so Iwan. Im Garten bauen sie Kartoffeln, Tomaten und Gurken an. Im Stall quiekt ein Schwein. Wasser wird aus einem Brunnen geschöpft. Weite Teile der einstigen 3.000-Seelen-Gemeinde sind mit hohem Gras überwuchert, die leeren Holzdatschen vermodern. Nur noch zwei weitere Großmütter leben in der romantischen Einöde … die heulenden Wölfe sind zahlenmäßig überlegen.
„Einmal haben die Kontrollmaschinen gepiept“
Auch das Leben von Sergej, dem 23jährigen ukrainischen Fremdenführer, ist mit dem Reaktorunglück vom 26. April 1986 verbunden, seit die Eltern 1995 ihr Heimatdorf fünf Kilometer jenseits der Sperrgrenze verlassen mussten.
Die Behörden arbeiteten zielgerichtet daran, auch die Umgebung der Zone abzusiedeln. 350.000 Menschen verloren bisher ihre Heimat. Mit bereits mehr als 500 Touren, heute in einem Mercedes-Kastenwagen vom Typ Vito, bestreitet Sergej seinen Lebensunterhalt. Seine Arbeitgeber, die Reiseanbieter, übernehmen den anstrengenden Papierkram – Genehmigungen, die an unterschiedlichen Straßenposten kontrolliert werden. Das einschneidendste Erlebnis: „Einmal haben die Kontrollmaschinen am Ausgang gepiept“, berichtet der junge Mann. Ein Zeichen für hochradioaktive Teilchen am Körper! „Die Wachleute haben geholfen, alles mit einem Handtuch abzurubbeln, dann war die Sache wieder in Ordnung“, so Sergej regungslos. Die Mitreisenden hätten allerdings sofort ihre Kleidung und sich selbst im Tschernobyler Hotel gewaschen. Das Leitungswasser, so heißt es, wird aus tiefsten Schichten hochgepumpt … und ist nicht nur geschmacklich besser als jenes in der Hauptstadt Kiew.
0,1 Mikrosievert pro Stunde gelten in Deutschland als Grenzmarke unbedenklicher Strahlenbelastung. Mit dem Geigerzähler messen wir 0,15 MS/h in Tschernobyl. Überraschend normal. Auf 200 Meter Distanz zum versiegelten Reaktor sind es bereits 3,9 MS/h.
Vier Kilometer weiter, im Kindergarten von Kopatschi, dem letzten Gebäude der 1986 eingeebneten und vergrabenen Gemeinde von 1114 Einwohnern, ist ein Wert von 0,34 MS/h zu ermessen. Allerdings nur innerhalb des modrigen Gemäuers, dass mit alten Betten, Bildern und Puppen bestückt ist. Draußen, umgeben vom jungen Ahorn-Wald, liegt der Wert bei 3 MS/h, direkt am Baum sind es gar 15,2 MS/h. Sergej erläutert: „Die Radionuklide sinken jedes Jahr einen Zentimeter tiefer in den Boden. Die Bäume nehmen sie jetzt über ihre Wurzeln wieder auf, und strahlen selbst erhöhte Werte ab.“ Deshalb gilt: Nichts anfassen!
Die Gefahren lauern verdeckt
Ungleich beeindruckender: Eine tödliche Gefahrenquelle im verfallenen Krankenhaus von Prypjat, der größten Stadt in direkter Nachbarschaft zum Reaktor. Fast 50.000 Menschen wurden hier 1986 innerhalb von zweieinhalb Stunden evakuiert.
Auf einer verstaubten Empfangstheke liegt unscheinbar ein Objekt, das nach einem Fetzen Dämmung ausschaut. „Einer der ersten Strahlenopfer muss das in die Klinik gebracht haben“, vermutet Sergej. Das Messgerät zeigt 156,1 MS/h in unmittelbarer Nähe … 20 cm weiter nur noch 1 MS/h.
Auch draußen sind die vor allem durch den Regen niedergerieselten hochradioaktiven Flächen wie die Flecken eines Leopardenfells verteilt. Von den 190,3 Tonnen radioaktiven Materials im Reaktorkern wurden vom 26. April bis zum 5. Mai 1986 6,7 Tonnen durch die thermische Explosion und das anschließende Feuer freigesetzt. 100.000 Militärs und 400.000 zivile Helfer, „Liquidatoren“ genannt, kämpften damals unter Einsatz ihres Lebens darum, die Giftquellen zu versiegeln. Laut einer Recherche des britischen INDEPENDENT starben durch den größten Atomunfall der Geschichte zwischen 41 Menschen unmittelbar und Zehntausende an den Folgen – doch eine unabhängige wissenschaftliche Erhebung gibt es bis heute nicht.
Die Todeswolke als Ergebnis des zehntägigen Brandes, durch den eine Radioaktivität von 400 Hiroschima-Bomben freigesetzt wurde, zog 1986 gen Norden – durch Weißrussland, Russland, das Baltikum und Skandinavien. Auch Deutschland wurde von Ablegern getroffen. Dennoch: Der Ausstoß bildet nur einen Bruchteil dessen, was durch die Atomwaffentests des 20. Jahrhunderts in die Atmosphäre geblasen wurde. Hohe Halbwertzeiten wie bei radioaktivem Strontium-90 (29 Jahre), Cäsium-137 (30 Jahre), Americium-241 (432 Jahre) oder Plutonium-241 (24.110 Jahre) bleiben in Tschernobyl gefürchtet. 99 % des strahlenden Materials hat jedoch bereits zehn Halbwertzeiten durchlaufen, ist also nicht mehr nachweisbar, so etwa Iod-131 (8 Tage).
Sergej berichtet jedoch von der Sorge vor möglichen illegalen Grabungen in den 2.600 Quadratkilometern des ukrainischen Teils der Sperrzone – zum Bau einer „schmutzigen Bombe“. Die ist bisher zwar noch nie zum Einsatz gekommen, doch Sicherheits-experten warnen immer wieder vor finsteren Interessen mafiöser Erpresser, weltentfremdeter Sekten oder islamischer Dschihadisten.
Auch die NATO ist in Sorge
Das ukrainische Militär hat schon reagiert: Seit Anfang des Jahres, so Sergej, patrouillierten Soldaten um das Sperrareal, dessen Zaun an vielen Stellen bereits löchrig sei. Auch die NATO blickt mit Sorge auf die Instabilität im Atomstaat Ukraine, der nach wie vor die Hälfte seines Stroms über 15 Reaktoren an 4 Standorten generiert.
Bereits im April 2014, der Aufstand im Donbass hatte gerade begonnen, da sandte das westliche Militärbündnis medienwirksam „eine kleine Mannschaft ziviler Experten“ in die Ukraine, um in Fragen der Atomsicherheit zu beraten. Ein Sprecher der NATO in Brüssel erklärt mir gegenüber schriftlich, dass die Mission in Kiew bereits nach „nur ein paar Tagen“ abgeschlossen gewesen sei. „Der Zweck der NATO-Zivilexperten-Mission war es, die Ukraine darin zu unterstützen, ihre zivile Notfall-Bereitschaft und Leitungspläne zu verbessern“, so der Offizielle. Der Empfehlungsbericht für die ukrainischen Behörden sei geheim.
Von den Untiefen globaler Sicherheitssorgen ist im herbstlichen Prypjat derweil nichts zu spüren. Die menschenleere Retorten-Stadt aus den 70er Jahren hat das Schlimmste lange hinter sich.
Meterhöhe Bäume sprießen zwischen den robusten Plattenbauten in den Himmel. Es herrscht totale Stille. Das bunte Herbstlaub wird nur noch von den Hauptstraßen weggekarrt. Doch das Stillleben konservierter sowjetischer Wohnungen hat sich leider nicht erhalten: Im Chaos der 90er Jahre sind Plünderer durch die Stadt gezogen. Nur noch zertrümmerte Möbel und Scheiben sind übrig geblieben. Doch immerhin: Lenin und die Koryphäen der KPdSU sind als Bildnisse noch in Schulen und Kulturzentren zu bestaunen … Gebäude, an denen der Zahn der Zeit sichtlich genagt hat. Überreste eingefrorener Geschichte, einer stehen gebliebenen Zeit. In der Nähe des Riesenrads im nie eröffneten Freizeitpark trottet beinahe zutraulich ein Fuchs vorbei.
Wo sind die Mutationen?
Beim Füttern der Welse und Rotaugen im strahlenverseuchten Kühlbecken 500 Meter neben dem Reaktor stellt sich die Frage schließlich doch: Wo sind die erwarteten Mutationen? Tim Mousseau, Biologie-Professor von der „University of South Carolina“ aus den USA befindet sich gerade zum wiederholten Male im Forschungseinsatz vor Ort. „Godzilla-Fantasien“ erteilt der 56jährige im Gespräch eine Absage: „Die Lebewesen werden nicht größer, sie kriegen auch keine Superkräfte.“ Die Veränderungen, die er bei Vögeln untersuche, seien nur bei ganz genauem Hinschauen zu erkennen. „Und die Mutation ist immer unnütz oder schädlich“, so Prof. Mousseau. Doch diese zu erwartende Einschätzung ist wissenschaftlich in die Defensive geraten: Der Genetiker Dr. Robert J. Baker von der Technischen Hochschule Texas forschte über Jahre an „Tausenden“ gefangenen Exemplaren von Mäusen aus dem so genannten „Roten Wald“, jenem Baumbestand, der sich unter intensiver Bestrahlung vor dem Absterben verfärbt hatte. Sein öffentlich publiziertes Resümee: „Im Augenblick sieht es wohl eher danach aus, dass es den Tieren nicht nur gut geht, sondern dass ihr Genom tatsächlich unverändert ist.“
Bei allem wissenschaftlichem Streit scheint sich eines doch herauszukristallisieren: Es existiert eine Anpassungsgabe an erhöhte Radioaktivität – je nach Art. Ein ukrainischer Forscher wettet darauf sogar mit dem Leben – und ernährt sich genüsslich an den Kirschen aus der Zone. Aktueller Kenntnisstand: Die Strahlung ist im Kern gebunden, das Fruchtfleisch rein.