Fußball-WM in Südafrika:
Globale Freudenfeier oder böses Erwachen?
– Ein kritischer Erlebnisbericht vom Kap –
Von Billy Six im April, Mai, Juni, August und September 2009 *
Bisher waren es nur Erzählungen. Nun ist es Realität. An einer Straßenkreuzung im Zentrum von Johannesburg, der größten Stadt in Südafrika, wird gerade ein Auto überfallen. Dabei dachte ich bis eben noch, die fünf schwarzen Männer, welche das an der Ampel wartende Fahrzeug verdeckten, wollten sich nur unterhalten, allenfalls etwas verkaufen. Die Situation verändert sich wie ein Donnerschlag, als einer der kräftigen Jünglinge sich mir zudreht, und mein Blick auf die eingeschlagene Fensterscheibe fällt. Ich nehme die Beine in die Hand und flitze zurück um die Straßenecke, von der ich gerade kam. Ich bin durcheinander. Hilfe, ja Hilfe rufen, das wäre das Beste. Doch die an den schroffen Häuserfronten dieser braunen und eintönigen Betonwüste herumlungernden und finster dreinblickenden Gestalten erscheinen mir da nicht hilfreich. Während ich noch überlege, sehe ich wie die Räuber sich die Taschen aus dem Fahrzeug haben geben lassen und sich in verschiedene Richtungen zerstreuen. Der schwarze Großstadtdschungel von Johannesburg nimmt sie schützend in sich auf. Zurück bleibt ein verstörtes weißes Ehepaar. Durch die zerstörte Scheibe frage ich, ob ich helfen könne. Der Kopf der Frau zittert, doch es soll Nein heißen. Ihre Augen scheinen mindestens einen halben Zentimeter herausgewachsen. Ihr Mann drückt nun aufs Gas, mit Tempo geht es weg von hier – dem Verkehr und dem Ampellicht zum Trotze. Zurück bleibt eine von Glassplittern und Plunder übersähte Straße. Wie ein unwirklicher Traum ist das Geschehene verpufft – am helllichten Tage hat dieser Vorgang in weniger als einer Minute stattgefunden. Die Umstehenden gucken merkwürdig, mit einer Mischung aus Desinteresse und Verachtung, während ich nach Hilfe suche. Eine mollige ältere Schwarze sammelt den Plunder auf, doch sie gehört mitnichten zu den schlimmsten der urbanen Aasgeier. Sogar im Schnellrestaurant teilt man mir mit, dass es keinen Willen gebe, die Polizei zu alarmieren – schließlich sei der Chef nicht da.
In meinen zehn Monaten, die ich nach Abschluss dieser 2009er Etappe bereits per Anhalter und zu Fuß in Afrika unterwegs sein werde, ist mir nirgends ein Land begegnet, in welchem das 21. Jahrhundert und die Steinzeit so krass aufeinanderprallen. Und hier in Südafrika soll im Sommer 2010 die Fußballweltmeisterschaft stattfinden. An Infrastruktur, zum großen Teil in der Apartheidzeit von 1948 bis 1994 errichtet, wird es unter dem Strich nicht mangeln. Wohl aber an Sicherheit für die Hunderttausende an Besuchern. Selbst nach offiziellen Statistiken werden allein in Johannesburg mit über 3.000 Toten jedes Jahr mehr Menschen ermordet als in ganz Deutschland zusammen.
Als ich den Ort des Überfalls fotografieren möchte, kommt ein gepanzerter Polizeiwagen vorbei. Ich solle hier besser schnell verschwinden, sagen sie, und ich werde das Gefühl nicht los, dass die Staatsdiener selbst ganz froh sind, das enge Fahrzeug nicht verlassen zu müssen.
Ende April waren in der Küstenstadt Durban einige Polizisten im Zuge der Verfolgung von Bankräubern ums Leben gekommen. Betroffenheit konnte ich vor Ort nicht wirklich spüren, vielmehr war die Gewalt auch im Natal bereits beklemmende Normalität. Selbst eine große Kirche, wo ich der Armenküche bei der Arbeit half, ähnelte mit ihren hohen Mauern und dem Stacheldraht eher einem Militärbunker. Eine 83jährige schwarze Ordensfrau rief gen Himmel: „Nirgendwo ist man mehr sicher – nicht einmal in der Kirche. Männer, Frauen, Südafrikaner, Ausländer – Alle sind kriminell.“ Als sie den Dutzenden arbeitsfähigen jungen Männer, die sich auf dem chaotischen Vorplatz füttern ließen, auch noch das dreckige Geschirr hinterher räumen musste, platze ihr der Kragen: „Was habt Ihr aus unserem Land gemacht?“
Ein junger Mann aus Uganda, der sich heute als Autohändler betätigt, machte klar, wäre da nicht das gute Geld, dann hätte er Durban bereits lange verlassen. Er begleitete mich zu einem Obdachlosenheim, das nachts verschlossen und bewacht wird. Nach 18 Uhr wird es hier lebensgefährlich im Zentrum dieses vermeintlichen Idylls am Indischen Ozean. Er selbst ist vor kurzem von einer Bande Halbstarker angegriffen und verprügelt worden – konnte als Kampfsportler die Meute aber zur Strecke bringen. Die Polizei verharrte damals nicht mal 100 Meter entfernt auf ihrer Station.
Auch aus Teilen von Johannesburg scheint sich die Staatsmacht zurückgezogen zu haben. Hillbrow – das war einst ein modernes, multikulturelles Vorzeigeviertel. Wohlhabende bezogen Quartier, Genießer saßen in den Straßen-Cafeterias. Wie die Welt sich doch ändern kann. Ich sehe keinen einzigen Weißen und keinen Ordnungshüter. Viele der hohen Häuser stehen leer, Fenster sind eingeschlagen, die Hauptstraße ist aufgerissen und mit Warnbändern abgeschirmt. An den Seiten türmen sich Schlamm und Müll. Anders als im teilweise ausgestorben wirkenden Zentrum tummeln sich hier jedoch eine Menge Menschen – freundlich sind sie mir gegenüber aber nicht gestimmt. Um einen Angriff präventiv zu verhindern, versuche ich alles, um als Straßenpenner zu wirken – und sammle die unzähligen bronzenen Fünf-Cent-Münzen auf.
Gegenüber solchen Zuständen wirkt das einstige Vorstadtghetto Soweto, früher Schauplatz blutiger Kämpfe, beinahe friedlich. Nur die bohrenden Blicke stören. Das Gefühl dauernder Unsicherheit. Und die Familie, bei der ich kurz unterkomme, kann dem nicht zum Abbruch verhelfen. Die Frau des Hauses legt ein Messer auf den Tisch und berichtet, wie sie damit eine andere Frau tötete. Diese habe nun einmal nicht ihre Handtasche abgeben wollen. Auch mich laden sie nun ein, an den Räubertouren teilzunehmen – man benötige Hilfe beim Vordringen in die gesicherten Häuseranlagen der Weißen. Draußen sitzen Söhne, Brüder und Vettern – alle angetrunken. Es ist zwei Uhr Nachmittags.
Dann auch noch Schüsse. Es ist Nacht und ich bin mittlerweile in die Hauptstadt Pretoria weiter gezogen. Hier in dieser großen Wohn- und Klubsiedlung am Rande des Großraums haben sich burische Angola-Veteranen der alten Armee einen sicheren Hafen geschaffen. Wir sind geschützt. Relativ. Dicke Mauern, Elektrozäune und ein bewaffneter Wachdienst. Während es in vielleicht zwei Kilometern Entfernung knallt und Sirenen heulen, reden die kräftig gebauten Männer mit einem Bier in der Hand und sprechen über ihr Land. Jeder weiße Südafrikaner sei nach 1994 bereits einmal Opfer von Kriminalität geworden. Und die Regierungspartei ANC lasse bei der juristischen Aufarbeitung Opfer- vor Täterschutz walten. Schließlich sei sie von den schwarzen Massen abhängig, bei denen oftmals noch der Glaube vorherrsche, die Weißen stünden in ihrer Schuld … Es herrscht wieder Stille. Die Frauen im Klubhaus schnüren Geschenke für Straßenkinder – egal ob schwarz oder weiß.
Vielleicht ist eine Analyse sehr zutreffend, welche mir ein älteres deutsches Unternehmerpaar in Angola mitteilte, deren Kinder in Südafrika studieren: „Bis zur Fußball-WM wird Präsident Zuma das Konzept der Regenbogennation und des Sonnenscheins noch fortsetzen. Wenn es danach aber zu offiziellem Weißenhass und umfassenden Enteignungen kommt, wollen wir mit Südafrika auch nichts mehr zu tun haben – ein Bürgerkrieg ist dann nicht mehr fern.“ Es ist schon beklemmend, wie viele Leute trotz allem davon ausgehen, dass es in Zukunft noch schlimmer kommt.
* Geschrieben im Januar 2010