Juni/Juli 2011: „Das überlebst Du nicht!“ Die Ansagen des libyschen Rebellenrats in
Bengasi waren klar und eindeutig: Kein ausländischer Journalist soll nach Al Kufrah, der südlichsten Stadt des Wüstenstaates. 4 Oasen mit nur 40.000 Einwohnern, fast 1.000 Kilometer Luftlinie von der Oppositionshochburg entfernt, umgeben vom endlosen Sandmeer der Sahara – niemand könne Sicherheit garantieren, hieß es.
An einem Mangel an Waffen kann es nicht liegen: Es knallt gewaltig! Ein Konvoi aus 30 Geländewagen rollt durch die Straßen. Mit Kalaschnikows, 14,5-mm Flugabwehrgeschossen und selbst Panzerfäusten wird wahllos in die Luft geschossen. Die Männer-Gesellschaft jubelt. Sie nennen es „Party“. Andere stehen regungslos am Straßenrand und
begutachten das Spektakel. Keine Frage, hier soll Stärke demonstriert werden. „Über Wochen und Monate war Kufrah komplett gespalten, aber mittlerweile hat die Revolution die Oberhand“, sagt ein Englisch-Lehrer der örtlichen Universität. Tatsächlich werden die Trikoloren des alten Königreichs von Tag zu Tag zahlreicher.
Noch vor kurzem war alles anders: Gerade mal 400 Protestler sorgten
am 23. Februar für einen Umsturz. Die Polizei ging nach hause. „Und das Militär ignorierte den Schiessbefehl aus Tripolis“, so Oberst Suleiman Hamed al Sway (52), der seitdem im Flughafen als selbst ernannter Feldherr residiert. Tote gab es damals keine. Doch ein Mann hielt Muammar Gaddafi die Treue – Oberst Belgassem Labasch al Sway. Wütend über die Tatenlosigkeit der eigenen Armee, nahm er den weiten Weg in den libyschen Westen auf sich, um eine Gegentruppe zu organisieren. Mit 40 bis 50 bewaffneten Toyota-Geländewagen sollte dem „revolutionären Spuk“ schließlich ein Ende bereitet werden.
Noch heute ist Suleiman Hamed außer sich, dass die NATO seinen Gegenspieler damals nicht ins Visier genommen hat. Belgassem habe sich geschickt verhalten – und aus seinem langsamen Vormarsch kein Geheimnis gemacht. Die libysche Ex-Armee und ein bunter Haufen aus neuen Rebellenkämpfern machte sich Hals über Kopf in die Wüste auf … Was für eine Schlacht! Kampflos fiel Al Kufrah am 27. April zurück an die Regierung in Tripolis! Der Gerichtshof, Sitz des örtlichen Revolutionsrats, wurde mit einer Planierraupe niedergewalzt. Grüne Flaggen wedelten in den Straßen – die Sache schien erledigt.
„Der Oberst hat diese Stadt aber unterschätzt“, sagt Hassan Barassi
al Sway über Gaddafi und lacht freundlich. Der 60jährige Nachfahre afrikanischer
Sklaven ist einer der schillerndsten Figuren des Wüsten-Theaters. Als Individual-Rebell hat er eine geheime Operation begleitet: Einen bisher unbekannten Waffenimport aus dem Ausland. 30 Wüstenfahrzeuge schiffte das Golf-Emirat Katar in den Sudan ein. Mit Duldung des Baschir-Regimes in Khartoum habe sich die Rebellenvorhut aus Libyen mit dem reichlichen Munitionsangebot eines erfahrenen Bürgerkriegslandes eingedeckt – und sich schleunigst wieder auf den Rückweg gen Heimat gemacht.
Und dann floss doch noch Blut. Am 5. Mai startete eine Gruppe von 150 Bewaffneten den Gegenangriff. Ausgerechnet die ausgebildeten Soldaten
unter ihnen sollen jedoch einen schnellen Rückzieher gemacht – und
die Amateure allein gelassen haben. 6 Rebellen seien gestorben. Und eine unbekannte Zahl der Gegenseite, die sich noch am selben Tag verflüchtigt haben soll.
Es ist ein merkwürdiger Friede eingekehrt im äußersten Südosten
von Libyen: Mindestens 10 Rebellen-Formationen stehen sich nun
gegenüber. Eine zentrale Organisation gibt es nicht. Dafür eine Menge Vorbehalte gegeneinander … „Viele verstehen den Sinn dieser Revolution überhaupt nicht“, gibt Scheich Nasser Bujafuhl al Sway zu bedenken. Der Exilant aus Australien, vor 20 Jahren noch Mitglied einer islamistischen Jugendbewegung, ist vom Revolutionsrat in Bengasi mitsamt einer ganzen Freiwilligenkompanie angerückt. „Wir haben Suleiman Hamed erwischt, wie er 10 Fahrzeuge Richtung Tschad fahren ließ – vollgepackt mit Lebensmitteln und Benzin, das für die Bürger Kufrahs bestimmt war.“ Ein lukratives Auslandsgeschäft – während die Privatautos stundenlang in einer Hunderte Meter langen Schlange auf Treibstoff warten. In der Wüste sei es zu einer handfesten Auseinandersetzung mit dem Schmuggler-Oberst gekommen – und der Scheich ließ ihn ziehen, um einen offenen Krieg abzuwenden, wie er selbst sagt. Stoppen tun den Handel nun Andere: Die Darfur-Rebellengruppe „Gerechtigkeit und Gleichheit“ soll auf libysches Gebiet vorgestoßen sein und wichtige Punkte entlag der Grenzen besetzt halten. Offenbar im Auftrag der verbündeten Gaddafi-Regierung sollen weitere Waffenimporte verhindert werden. So ärgerlich die Lage auch ist … Oberst Suleiman Hamed mag sich auf weitere Abenteuer im heißen Wüstensand nicht einlassen – sein Kopf schmerzt, vom ständigen Alkoholkonsum.
Was niemand hören mag: „Kufrah“ entstammt dem arabischen Wort „Kafir“
für „Ungläubiger“. Ein Zufall? „Al Ahrahb aschadu kufran wanifakan“
– das im ganzen Orient bekannte Zitat lässt sich nun umso klarer
verstehen. „Die Wuestenaraber sind mehr ungläubig und
heuchlerischer“, heißt es in der Übersetzung. Nicht von irgendwo,
sondern aus der neunten Sure des Koran.