Juli 2011*: Als Bengasi vor dem Fall stand, da schien die Sache klar: Präzise Luftangriffe von Amerikanern, Franzosen und Briten retteten die
Revolution und verhinderten möglicherweise einen blutigen Häuserkampf. Zivilisten wurden geschützt, auch wenn mittlerweile davon ausgegangen werden
muss, dass in Bengasi eine halbwegs organisierte Kapitulation in Planung
war …
Mittlerweile sind 8 Monate vergangen. Die Regierungstruppen hatten
sich schon lange von sämtlichen Aufstandszonen zurückgezogen –
mittlerweile sind sie am Ende. Nun sind es die einstigen Rebellen, die
angreifen. Heute noch gegen Anhänger des alten Regimes. Morgen
gegeneinander? Nur Tage nach dem Mord an ihrem militärischen
Oberbefehlshaber Abdel Fattah Jounis im August sind sie landesweit in
eine blutige Offensive gestartet. Ein risikoreiches Unterfangen, das mit
dem Ex-Innenminister offenbar nicht zu machen war. Und die NATO
bombardierte noch 2 Monate weiter – „zum Schutze der
Zivilbevölkerung“, wie es hieß. Aber wie war der hehre Anspruch
erfüllbar, jetzt, da jene Gebiete im Visier lagen, deren Bevölkerungen der
„Grünen Revolution“ des alten Oberst Gaddafi mehrheitlich nicht ablehnend
gegenüber standen?
Es gibt bis heute immer mehr Fragen als Antworten. Schleichend
meldeten sich in Europa auch wieder Verschwörungstheoretiker zu Wort. Öl und Gas fallen interessanterweise selten als vermeintliche Begründung für die
westliche Intervention. In der Tat: Gaddafis Libyen beteiligte die
internationalen Konsortien großzügig an den Reichtümern des Landes.
Warum also ein Umsturz?
Der Schatz, um den es angeblich ginge, wäre genauso simpel wie überlebenswichtig: Wasser. Wahr ist, dass Libyen über gewaltige unterirdische Reserven verfügt … mehr als 300 Meter unter dem Wüstensand der südlichen Sahara. Ohne Kredite von Weltbank oder
IWF forcierte die Regierung seit 1984 das weltweit größte Trinkwasser Rohrleitungs-Projekt der Welt. 4 Millionen Kubikmeter Wasser fließen bereits heute in Richtung der Küstenstädte – jeden Tag! Sind erst die Kufrah-Oasen angeschlossen, sollen es 6 Millionen sein. Obwohl einst mit südkoreanischer und deutscher Hilfe gebaut, befindet sich das Projekt zu 100 Prozent in staatlicher Hand.
Grund genug, der Sache auf den Grund zu gehen: Nördlich von Al Kufrah,
nur noch rund 900 Kilometer südlich der Rebellenhochburg Bengasi,
liegen die offenen Baustellen türkischer Arbeiter. Das Geäende wurde ausgeplündert und niedergebrannt. Offenbar ist nicht jeder Bürger aus der nahen Oasensiedlung ein „aufrechter Demokrat“. Alles ist verwaist,
aber die großen Rohrstücke liegen offen unter der brennenden Sonne. 4 Meter Durchmesser – ein Wahnsinn. Über 1.000 Kilometer soll diese Leitung einmal lang sein und die Metropolen des Ostens mit dem nassen Element versorgen – von Tasurbu und Sarir fliesst das Wasser schon heute nach Bengasi. Dort, im Sarir-Wüstenfeld liegt die Zwischenstation des „Künstlichen Flusses“. Das moderne Firmengebäude mitten im Nirgendwo wird von den Arbeitern und Rebellen aus Kufrah und Bengasi bewacht. Bauingenieur-Chef Salaheldien Kthowra und Geologe Said Sakran al Majbari freuen sich über ein abwechslungsreiches Gespräch.
„Die Anlagen laufen bis heute – wir versorgen sogar weiterhin die Gaddafi- Hochburg Sirt, schließlich sind das unsere Brüder“, meinen sie. „In den 1950er Jahren stießen amerikanische Ölfirmen auf das Tiefenwasser. Bis heute haben wir es nicht ausgiebig erforscht, wir wissen nicht einmal genau, ob es sich nur um einen abgeschlossenen fossilen Wasserspeicher oder um unterirdische Flusssysteme handelt.“ Auf die Frage, ob es Begehrlichkeiten ausländischer Mächte gäbe, runzeln die Männer nur die Stirn: „Wirtschaftlich lohnt sich die ganze Sache nicht – Gaddafi wollte sich nur ein Denkmal setzen.“
Dennoch: Die Trinkwasser-Qualität habe sich im Vergleich zu den alten
Entsalzungsanlagen deutlich gebessert. Der Plan, die Wüste zum Grünen
zu bringen und Libyen autark von Nahrungseinfuhren zu machen, sei zwar
gut – aber immer noch in den Kinderschuhen, einigen Farmprojekten zum
Trotze. In jedem Falle kann ein weiteres Märchen vorerst relativiert
werden: Das weit verbreitete Gerede der einfachen Libyer, die Oasen würden sterben, stimme so nicht. „Das Unternehmen pumpt vom Tiefen-, nicht vom
Grundwasser“, so Geologe Dr. Saad Khomies al Obeidi. Dazwischen lägen
über 200 Meter massives Gestein. Vielen Leuten von der Straße geht es
mit ihren „Märchen aus 1001 Nacht“ offenbar nur noch darum, Stimmung gegen
Muammar Gaddafi zu machen … und zu den Siegern der neuen Zeit zu gehören, jetzt da alle Messen gesungen zu sein scheinen.
Dabei interessieren die raren Pro-Gaddafi-Argumente mittlerweile um so
mehr, nachdem der Diktator eben nicht „nach 3 Tagen“ Luftkrieg
kapituliert hatte – sondern erst Monate später einer organisierten
Hetzjagd zum Opfer fallen wird. Hinter vorgehaltener Hand weisen selbst in der
Cyrenaika einige gebildete Leute darauf hin, was für ein sicheres und
stabiles Land Libyen die letzten 42 Jahre gewesen sei. Die Rechte der
Frauen seien gestärkt worden – ihre Alphabetisierung stieg von 0 % 1969
auf 90 % heute. Spitzenreiter in Arabien. Auch habe jede Stadt
regelmäßig Geld aus Tripolis erhalten – zur freien Verwendung.
Schlechte Infrastruktur wäre oftmals auch mit der lokalen Korruption der dezentralen „Dschamaharija“ zu begründen, und liege nicht an der Zentralgewalt, heißt es.
Der Blick auf die Wirklichkeit nimmt damit immer diffusere Züge an … Was soll man nun noch glauben? Wie schön war es doch, als die Dinge noch klar und einfach schienen: Damals, im Februar 2011, als ein „böser Diktator“ sein „unterdrücktes
Volk gnadenlos abschlachtete“. Die Matrix lässt grüßen.
* Aufgeschrieben im Oktober 2011